Exlibri Familie Bubenzer

Otto Ubbelohde (1867-1922), Landschaftsmaler, Grafiker, Illustrator und Entwerfer kunsthandwerklicher Arbeiten. Er gehörte der künstlerischen Erneuerungbewegung um 1900 an, in der versucht wurde, Kunst und Leben wieder dichter aneinander zu rücken, und hat dabei einen eminent wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis seines hessischen Lebensumfeldes geleistet. Besonders bekannt geworden sind seine Zeichnungen zu den Grimmschen Märchen (1907-1909 erstmals veröffentlicht).
(hier gezeigt: Exlibri Familie Bubenzer)

Vogel
Vogel
Vogel
Vogel
Vogel
Vogel

Blüthenstaub (in liebevoller Erinnerung an Novalis)


Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.
Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich »Euer Gnaden«.
Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

aus „Gedichte dreier Jahre“ (1931)
von Joachim Ringelnatz (1883-1934)


Tannhäuser Tor

„Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet.
Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion.
Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor.
All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen.
[Pause] Zeit zu sterben.“

„I’ve seen things you people wouldn’t believe.
Attack ships on fire off the shoulder of Orion.
I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser Gate.
All those moments will be lost in time like tears in rain.
[Pause] Time to die.”

Rutger Hauer, 1982 (als Roy Batty in Blade Runner).


Unwiederbringlichkeit

Jeder hat seine eigene,
geheime, persönliche Welt.
Es gibt in dieser Welt
den besten Augenblick,
es gibt in dieser Welt
die schrecklichste Stunde;
aber dies alles ist uns verborgen.

Und wenn ein Mensch stirbt,
dann stirbt mit ihm sein erster Schnee
und sein erster Kuss und sein erster Kampf...
all das nimmt er mit sich.

Was wissen wir über die Freunde, die Brüder,
was wissen wir schon von unserer Liebsten?
Und über unseren eigenen Vater
wissen wir, die wir alles wissen, nichts.

Die Menschen gehen fort…
Da gibt es keine Rückkehr.
Ihre geheimen Welten
können nicht wieder entstehen.

Und jedes Mal möchte ich von neuem
diese Unwiederbringlichkeit hinaus schreien.

Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko (1932-2017).


Memento

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tod derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eigenen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muss man leben.

aus
Mascha Kaléko (1907-1975)
"Verse für Zeitgenossen", New York, 1945.


Cichorium intybus radix Urtinktur (Wegwartenwurzel)

Das Wesen der Pflanze

Die Kraft des Jetzt, Ja zur Gegenwart, Treue

Der Mensch geht einen Weg mit vielen Gabelungen, und an jeder Verzweigung muss er sich entscheiden. Geht er wirklich seinen Weg, bleibt er ihm treu, oder wird er durch fremde Einflüsse oder innere Zweifel irregeleitet? Ist er gefangen im Strom der Zeit? Hadert er mit Vergangenem, träumt er von Zukünftigem? Oder geht er mit der spielerischen Leichtigkeit des Augenblicks durchs Leben wie der Gaukler? An mittelalterlichen Höfen genoss der Gaukler Narrenfreiheit. Er hielt dem Regenten einen Spiegel vor, ohne moralisches Urteil, spielerisch, närrisch. Die Leichtigkeit des Jetzt enthält ein spielerisches, tief ernstes Moment und macht unangreifbar, weil sie in der Wahrheit steht.

Die Wegwarte stellt den Menschen mit beiden Beinen in das Jetzt des Augenblicks, weckt aus Träumereien und verbindet mit dem Augenblick, dem Hier und Jetzt. Die Signatur des Jetzt, des Heute zeigt ihm seinen Standort. Nicht durch die Vergangenheit, nicht durch die Zukunft, sondern durch das strahlende Heute, den Moment, in dem ich lebe, bin ich verbunden mit meinem ursprünglichen Auftrag.

Die Wegwarte öffnet mit ihrer himmelblauen Blüte jeden Tag von neuem ein Fenster, das den Menschen aus dem Zeitenstrom hinausführt in den Moment und damit in die Wirklichkeit des innersten eigenen Auftrags. Im bewussten Ergreifen des Augenblicks nimmt der Mensch wertfrei seinen momentanen Standort wahr. Er realisiert, dass er einem Plan gemäß geführt wird, dass seiner Existenz ein Gesetz zugrunde liegt. Dieses Gesetz heißt Treue sich selbst gegenüber, Treue zum eigenen Lebensplan, zum ursprünglichen Auftrag.

aus: Roger Kalbermatten, Hildegard Kalbermatten: Pflanzliche Urtinkturen – Wesen und Anwendung. AT Verlag, Baden, 2005 (ISBN 3-03800-220-8).


Sozusagen grundlos vergnügt

Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen,
Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit.
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
Dass Amseln flöten und dass Immen summen.
Dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.

Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht.
Und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter.
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter.
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehen.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel fährt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
– Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freue mich, dass ich … Dass ich mich freu.

aus „In meinen Träumen läutet es Sturm“ (1977 erschienen)
von Mascha Kaleko (1907-75)

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